Erschienen am: 26.01.2024

Pflegepolitik: Reform oder Revolution?

Veranstaltung der "Starken Pflege Münster" zeigt: So kann es nicht weitergehen

Münster. Ist eine grundlegende Reform oder Revolution in der Pflegepolitik nötig? Darüber waren sich die Anwesenden beim 360-Grad-Blick auf die Pflege nicht einig. Deutlich wurde aber: So wie bisher kann es nicht weitergehen. Die Vertreter der „Starken Pflege Münster“ machten gegenüber den gesundheitspolitischen Sprecherinnen der Grünen und der Linken im Bundestag, Maria Klein-Schmeink und Kathrin Vogler sowie der städtischen Dezernentin Cornelia Wilkens deutlich: „Wir wollen an Lösungen mitarbeiten.“ Der ebenfalls eingeladene CDU-Bundestagsabgeordnete Dr. Stefan Nacke hatte krankheitsbedingt absagen müssen.

Maria Klein-Schmeink, Kathrin Vogler und Cornelia Wilkens (von links) folgten der Einladung zur Veranstaltung, die von Roland Weigel moderiert wurde.

Während Klein-Schmeink auf geplante Gesetzesinitiativen verwies, forderte Vogler das System grundsätzlich zu verändern und auch Wilkens meinte, es sei wenig sinnvoll immer wieder an Detailfragen „herumzudoktern“.

Frank Jansing (Tibusstift) hatte für die Starke Pflege eingangs darauf hingewiesen, dass 100 stationäre Plätze in der Langzeitpflege derzeit in Münster nicht belegt werden können. Nach dem Pflegebedarfsplan der Stadt sind weitere 100 Plätze nötig, so dass bereits 200 Plätze fehlen. Markus Brinkmann, Leiter des Caritas-Altenzentrums St. Lamberti: „Bei mir rufen jeden Tag zehn Angehörige an. Die Not der Menschen ist schwer auszuhalten.“

Und ambulant? „Die Menschen können auch zuhause nicht mehr ausreichend versorgt werden“, so Jansing. Bürokratie, wirtschaftliche und personelle Rahmenbedingungen sorgten dafür, dass Träger Angebote nicht mehr aufrechterhalten könnten. Cornelia Wilkens stimmte zu: „Wir nehmen das wahr.“ Und auch Maria-Klein-Schmeink sieht deutlich: „Der Mangel wird sich bis 2030 weiter ausweiten. Wir können nicht so weitermachen.“ Kathrin Vogler sprach sich für eine Bürgerversicherung aus, um die Finanzierung auf eine breite Grundlage zu stellen.

Über absurde Bürokratie-Beispiele berichtete Bernhard Sandbothe (Alexianer). Da wird eine Einrichtung zwei Jahre gar nicht geprüft und dann kommen Heimaufsicht und Medizinischer Dienst innerhalb von zwei Monaten. „Können die sich nicht absprechen?“ Die Behörden pflegten eine Misstrauenskultur, die Pflegende nicht motiviere: Bei einer Prüfung sei gesagt worden: „Es kann ja nicht sein, dass eine Pflegefachassistentin so wenige Fehler mache.“ Auf der anderen Seite verschleppten Kostenträger dringend nötige Anpassungen der Entgelte. Cornelia Wilkens sagte: „Wir würden uns auch eine engere Abstimmung mit dem Medizinischen Dienst wünschen.“ Kathrin Vogler und Maria Klein-Schmeink betonten: „Wir müssen Bürokratie verringern.“

Die Kostenexplosion „lässt Angehörige verzweifeln und gefährdet Träger“, berichtete Ulrich Watermeyer (Diakonie). Derzeit müssten die Leistungserbringer in Vorleistung treten, weil die Kostenträger die inflationär gestiegenen Kosten über mehrere Monate nicht anpassen. Die Leistungsentgelte in der Ambulanten Pflege seien um fünf Prozent gestiegen: „Das macht nur einen Bruchteil der Steigerungen aus.“ Kleinere Anbieter bekämen Liquiditätsprobleme, wenn Verträge nicht angeglichen würden. Den weitreichendsten Vorschlag dazu machte Kathrin Vogler: Sie forderte die Investitionskosten von Einrichtungen - wie bei Schulen und Kitas - durch die Öffentliche Hand zu finanzieren. Derzeit müssen dies die Pflegebedürftigen beziehungsweise deren Angehörigen. Dabei merkt die Stadt an steigenden Anträgen auf Pflegewohngeld, dass die Familien diese Belastungen nicht tragen können, ergänzte Cornelia Wilkens.

Ob die Vielfalt der Angebote in Zukunft auch noch besteht?  Daran hat Ruth Sander (Klarastift) ihre Zweifel. „Sind Wohngemeinschaften noch zeitgemäß?“, fragt sie. Angehörige müssten inzwischen 5000 bis 6000 Euro monatlich zahlen, der Pflegeaufwand werde immer höher. „Das Konzept der Wohngemeinschaft muss überdacht werden.“

In der ambulanten Pflege seien die Vergütungen für Pflegeleistungen und Fahrtkosten viel zu gering. „Wer kann es sich als Träger noch leisten einen Pflegebedürftigen auf einem Bauernhof zu versorgen, wenn die Fahrtkosten mit 3,72 Euro vergütet werden. Welcher Handwerker würde dafür kommen?. Ruth Sander sieht die Gefahr, dass „besonders Menschen mit hohen Pflegebedarfen auf der Strecke bleiben“.

 

 Einig waren sich die Teilnehmenden und Politikerinnen, dass ältere Menschen ein Recht auf eine gute Versorgung und Teilhabe in der Gesellschaft haben. Fragen, die unmittelbar die Würde von Menschen betreffen. Sie steht auf dem Spiel – das machte die Veranstaltung deutlich.